Peppi Bottrop
How Long is Forgotten

8. Apr. – 30. Mai 2020
Sies + Höke, Düsseldorf

Copyright the artist; Sies + Höke, Düsseldorf; Photo Achim Kukulies, Düsseldorf
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Eine der großen Absurditäten unserer Gegenwartskultur ist ihr Anspruch, Erfahrung analysierbar, kalkulierbar und konservierbar zu machen. Eins der großen Versprechen guter Malerei ist es, sich solchen Vermessenheiten vehement zu widersetzen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Titel Peppi Bottrops erster Einzelausstellung bei Sies + Höke nicht bloß als netter poetischer Spin lesen, sondern als Unterwanderung der konventionellen Logik von Zeit. How Long is Forgotten? Der Glitch, der durch die Verschränkung von Simple Past und Past Participle entsteht, macht die unscheinbare Frage zum grammatikalischen Time Warp; die Botschaft zwischen den Zeilen (oder auch Zeiten) ist die, dass Vergangenheit und Gegenwart, Vergessen und Erinnern, Ursprung und Utopie – per se und in Bottrops Bildern – ihre ganz eigene, unberechenbare Dynamik entwickeln.

Grundsätzlich steht das Vergessen der Erinnerung als antagonistische Kraft gegenüber. Erinnern ist Instandhaltung, Kultivierung, Konservierung von Vergangenheit und Identität, Vergessen hingegen schafft – im neurowissenschaftlichen Sinne – Kapazität für das Neue. Die Erinnerung baut auf Kontinuität, das Vergessen verursacht den Bruch. Dabei ist die Erkenntnis, dass auch Erinnerungen unser Zeiterleben radikal aus dem Takt bringen können, spätestens seit Marcel Prousts‘ Roman À la recherche du temps perdu im kulturellen Gedächtnis präsent. Um sich dem Phänomen der Proust’schen mémoires involontaires (Erinnerungen, die die zeitliche Kontinuität unverhofft außer Kraft setzen) sprachlich zu nähern, konstruierte der Schriftsteller Sätze, die syntaktisch dahinwuchern, sich in Verschachtelungen verzweigen. Bei Peppi Bottrop wuchern synaptische Striche, verschlungene Formen, Strukturen. Seine mémoires involontaires sind geprägt von den urbanen Peripherien der Städte, in denen er im Lauf der vergangenen Jahre gelebt und gearbeitet hat – Düsseldorf, Los Angeles, Mexico City – vor allem aber von den schroffen Industrierevieren des Ruhrgebiets, aus dem er stammt.

Wer die zerfaserte Infrastruktur der ehemaligen Kohleregion kennt, für den treten die biographischen Spuren in den Bildern des jungen Malers auch jenseits seines spröden, schwarzen Mediums offen zu Tage; für den ist sein psychogeographischer Ansatz nicht nur nachvollziehbar, sondern unverkennbar. Cornelius Tittel hat Bottrops Arbeit kürzlich als „manische Kartographie eines urbanen Flâneurs“ beschrieben, „tief im Westen, wo die Sonne verstaubt.“ In Anlehnung an den Behaviorismus, der das Prinzip des Erinnerns als ein Abarbeiten kognitiver Stadtpläne erklärt hat, lässt sich hinzufügen, dass die mäandernden Striche des Künstlers mitunter wie Ableger jener kaum kartierbaren Wege erscheinen, die das Gedächtnis einschlägt. Wie schon Guy Debord und seine driftende Entourage ist Peppi Bottrop weniger an funktionaler Urbanistik, als an ihren Fehlleistungen und Provisorien interessiert; an Orten, die ohne Rücksicht auf Gestaltungsgrundsätze von der Realität geformt wurden – oder an denen einfach mal wieder Mist gebaut wurde. Als Betrachter seiner „manischen Kartographie“ kann man eine Verwandtschaft zu den fulminanten Formulierungen JG Ballards feststellen, der seine Heimatstadt London nahezu psychopathologisch, wie einen Kadaver seziert hat. Im Kontrast zum friedlichen Flanieren, steht eine Malerei, die niemals Spaziergang oder Spritztour ist, sondern stets Tour de Force.

Tour de Force meint hier: eine Gewaltaktion ohne Tempolimit, dafür mit abrupten Stops und Umleitungen – den détournements, für die alle großen Flâneure bekannt sind. Aber auch: einen mit Mühe und Anstrengung verbundenen Akt, von der eigenen Rastlosigkeit und dem gewissen Weltschmerz getrieben, der gute Malerei überhaupt erst möglich macht. Die formale Ambivalenz Bottrops gestischer Abstraktionen ist mystifizierend und erschwert die Bemühung, ihren Duktus oder Sound (was im Grunde dasselbe ist) zu diagnostizieren. Jede Kartographie, jedes manisch skizzierte Revier, kennzeichnen guttural krächzende Kohlestriche, die jedoch mal fraktal, filigran und zögernd erscheinen, ein andermal rigoros, resolut und rasant. Nicht zuletzt ist da der Strich, den der Künstler all jenen durch die Rechnung macht, die ihn konzeptuell festnageln wollen.

Im Kontrast zu den obsessiv überzeichneten, sich immer wieder selbst revidierenden Grundformen früher Arbeiten präsentiert sich manch aktuelle Komposition als rhizomatisches Geflecht zerfaserter Zeichen und gesprengter Geometrien. All das, was zuvor zumindest halbwegs rational angelegt schien, ist gewachsen, verwachsen, mutiert, metastasiert; es gibt Striche, die suchend erscheinen und Kurven, die abrupt abbrechen oder in Irrwege auslaufen, als seien sie soeben falsch abgebogen. Wer will, der kann in den gewundenen Strukturen post-industrielle Arabesken erkennen – zerfahrene Zulieferschneisen, Rohrleitungen und Kabelreste zurückgebauter Zechen – und hat es doch mit weit mehr zu tun, als mit wüst aufgeworfenem Erinnerungsgut.

Zugleich selbstsicher und immer wieder in sich gebrochen, zeugt der Strich des Künstlers vom unermüdlichen Stop-and-Go eines Malprozesses, der mitunter so stockend, zäh und stoßhaft verläuft, wie der Verkehr bei Bottrop-Kirchhellen. Der Dialog mit dem Bild – bei Peppi Bottrop wird er gern mal zum Streitgespräch, oft auch zum physischen Kampf. Die Energie, die das Widerspiel freisetzt, ist in den gestischen Abstraktionen des Künstlers nicht nur fühlbar, sondern konstitutiv. Hin und wieder hat man den Eindruck, ein Schleudertrauma habe die Bildelemente durcheinandergewirbelt, derangiert, disloziert. Wie das Rhizom oder die Metropolregion Rhein-Ruhr verfügen Peppi Bottrops Bilder über kein eigentliches Zentrum – je nach Betrachtungsperspektive kann es überall und nirgendwo sein.

Manches Werk in der aktuellen Ausstellung bei Sies + Höke hat die widersinnige Anziehungskraft einer ungesicherten Unfallstelle. Und sind da nicht die Bremsspuren, die Gitter der Rampe des Abschleppwagens, die Metallreste der Sportwagenkarosserie? Ist da nicht der Nachhall rasender Geschwindigkeit, im Boden versickerndes Rot, Soil of Reddish Hue.[1] Das Existentielle, das Drama, Sorh?[2] (Könnte How Long is Forgotten nicht auf die Frage eines Angehörigen verweisen, der sich in gebrochenem Englisch nach der voraussichtlichen Dauer einer unfallbedingten Amnesie erkundigt?) Was wirklich passiert ist? Der Verantwortliche hat bruchstückhaft zu Protokoll gegeben: Hundebiss, rechte Hand kaputt. Um der leeren Leinwand eine erste Struktur zu geben, hat er sie auf ein Streckgitter gelegt, den Abdruck, der entstand, mit Rostumwandler passiviert und das Resultat weiterbearbeitet, sobald die Hand wieder Heil war – mit Grafitstift, Kohle, Acryl.

Die rötlichen Gitterstrukturen, die sich durch die Ausstellung ziehen, wie Überreste einer längst obsolet gewordenen Ordnung, fallen zunächst vor allem als weitere Reminiszenz an den deutschen Rust Belt ins Auge. Bemerkenswerter ist jedoch, wie sie sich als Bildgrund formieren – und ihn zugleich zersetzen. Zum ersten Mal hat Peppi Bottrop hier Zufallselemente in seine Malerei integriert und es scheint, als zitierten sie eine Gegenwart, deren Ängste sich nicht selten in hochgezogenen Zäunen und Hamburger Gittern manifestieren; deren Realität weniger vom Leben in den Straßen, als vom Netz der Datenautobahnen bestimmt wird. Wenn Peppi Bottrops Malerei auch wesentlich vom Zerfall der Montanbranche und ihren Relikten geprägt ist, wäre es ein Fehler, ihr ihre Aktualität abzusprechen. Wer sie als Rückspiegel betrachtet, der sieht in ihr nicht nur, was wir als Gesellschaft hinter uns lassen, sondern auch vieles von dem, das vielleicht schon gleich auf der Überholspur an uns vorbeipreschen wird.

Im Sinne Walter Benjamin wird das Wesentliche einer Gegenwart erst im Zusammenspiel mit ihrer unvollendeten Vergangenheit greifbar – und zwar punktuell, in einem bestimmten Augenblick oder in der Konkretion eines Bildes. All die Überreste, die in der Geschichte herumliegen wie Blindgänger im Geröll – hier können sie hochgehen. Bottrops Leinwände geben derartigen Detonationen einen Raum, der nur scheinbar an der Bildkante endet. In ihrer gestischen Wucht erobern seine Werke selbstbewusst die Umgebung. Während manch episches Format den Schauplatz dominiert wie ein Schlachtenbild, interagieren andere Bilder mit den baulichen Gegebenheiten des Ausstellungsraums und machen ihn sich auf diese Weise zu eigen. Wieder andere greifen installativ in die Architektur ein, um einen Raum im Raum zu definieren – und diesen unmittelbar mit ihrer eigenen Prägnanz zu besetzen. Ein gewisser Größenwahnsinn gehört sicher dazu. Vielleicht auch der Gedanke, dass Gedächtnis eine Art zeitlich verschachtelter Räumlichkeit ist, die sich mit jeder Erfahrung erweitert.

Eigentlich hat man den geometrischen Formen Bottrops früher Arbeiten gleich angesehen, dass er nicht bei ihnen bleiben würde. Das Rastlose und Unermüdliche, das in seinem Strich steckt, definiert auch ein wachsendes Werk, das sich von der eigenen Überholspur aus immer wieder selbst eruiert. Nur wer sich weiterentwickelt, bleibt auf Dauer lebendig –wahrscheinlich hat der Künstler das von seiner Heimat gelernt, die sich im Lauf seiner Kindheit so radikal ändern musste, wie keine andere westdeutsche Region. Im Zuge des Strukturwandels wurden Fördertürme zu Kulturdenkmälern umfunktioniert, Industriebrachen zu Skihallen und Technologieparks. Die Luft ist sauberer geworden, seit auch bei der letzten Bottroper Zeche Schicht im Schacht ist. Aber die schroffe, direkte Mentalität ist geblieben.

Man meint sie in dem Pragmatismus wiederzuerkennen, mit dem Peppi Bottrop seine Leinwände direkt an die Atelierwände tackert, so dass sich die Struktur des Putzes durchdrückt. Oder in einem Duktus, dessen Unmittelbarkeit im ständigen Konflikt mit dem Zweifelnden, Korrigierenden, Revidierenden, Gegen-sich-Selbst-Rebellierenden steht. Innerhalb der Parameter, die er für sich selbst definiert hat, vollzieht der Maler gekonnt Energiewenden, die entscheidend zur Varianz und Vielschichtigkeit seiner Arbeit beitragen.

In Zeiten, in denen die Jungen Wilden langsam alt werden und junge Kunst oft zahm und zielgerichtet daherkommt, versteht sich die Malerei zu selten als Kollision, die konstruktiv und destruktiv zugleich ist. Dabei müsste sie gerade heute wieder mehr Zusammenprall sein – von Zeiten, Charakterzügen, vom suchenden Selbst mit einer sich radikal wandelnden Welt. Bei Peppi Bottrop hat man hat das gute Gefühl gleichzeitig off-track und on the road zu sein. Um lose ein paar Worte des literarischen Psychogeographen J.G. Ballard zu leihen: “After being bombarded endlessly by road-safety propaganda it is almost a relief to find yourself in an actual accident.”

Anna Sinofzik

[1] Titel der aktuell bei Sies + Höke ausgestellten Werkreihe.
[2] Akronym des o.g. Werktitels und gleichzeitig die altangelsächsische Variante des protogermanischen Begriffs sorg, aus dem sich die deutsche Sorge und das englische sorrow herleitet.

About Peppi Bottrop

Peppi Bottrop (*1986) formulates a distinctive visual language that shifts between constructivism and deconstructivism, between figuration and abstraction.

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